„Was ist daran eigentlich Mission?“, wurde ich immer wieder gefragt, wenn wir Besucher bei uns im Kinderheim in Malawi hatten. Die gleiche Frage begegnete mir auch immer wieder in Gemeinden, in denen ich über unsere Arbeit berichtet habe: „Was ist bei eurer Arbeit denn christlicher als bei anderen sozialen Organisationen, die keine Missionsgesellschaft sind?“
Anfangs ärgerte ich mich noch über die Frage. Jeder Missionar hatte es sich einiges kosten lassen, um benachteiligten Kindern zu helfen. Unsere Gemeinden hatten uns ausgesandt, mit dem klaren Ziel, Kindern die gute und befreiende Botschaft von Jesus zu erzählen. Wie kann denn dann noch jemand daran zweifeln, dass unser Dienst tatsächlich Mission ist?
Je öfter mir diese Frage aber begegnete, desto stärker brachte sie mich zum Nachdenken. Für mich war es selbstverständlich, dass meine Hilfe Mission ist. Doch was unterschied mich denn tatsächlich von Organisationen, die nichts mit dem christlichen Glauben zu tun haben und trotzdem so viel Gutes tun? Oft investieren sie sich für benachteiligte, vernachlässigte und vergessene Menschen mit einer Hingabe, von der manche Christen sich durchaus eine Scheibe abschneiden können!
Mit jeder Frage in diese Richtung wurden meine eigenen Fragezeichen größer. Ist es wirklich Mission, wenn ich in meiner Missionsarbeit hauptsächlich damit beschäftigt bin, Menschen ins Krankenhaus zu begleiten, die Urlaubstage der einheimischen Mitarbeiter zu regeln, mir Gedanken darüber zu machen, wo wir das günstigste Wellblech für unsere Dächer herbekommen oder mich um die Reparatur von Autos zu kümmern?
Für alle diese Aufgaben gibt es gute Gründe. Sie lassen sich ehrlich und gut mit dem sozialen Auftrag begründen und helfen, die Situation der Menschen zu verbessern. Aber ist das „Mission“? Wird das dem christlichen Auftrag gerecht, Menschen zu Jüngern Jesu zu machen?
Laufen wir durch den sozialen Fokus nicht vielmehr Gefahr, den geistlichen Auftrag aus dem Blick zu verlieren? Lassen sich die beiden Aspekte überhaupt zusammenbringen? Oder hat Mission vielleicht nichts mit dem sozialen Aspekt zu tun und wir Christen sollten uns einfach ganz darauf konzentrieren, die christliche Botschaft zu predigen und Gemeinden zu gründen?
Beim Nachdenken über und Recherchieren zu dieser Frage sind mir immer wieder fünf Perspektiven begegnet, die ich kurz beschreiben will.
1. Mission ist nur ein geistlicher Auftrag
Mission als rein geistlichen Auftrag zu sehen ist heute nicht mehr populär, wird jedoch von einigen radikalen Christen sehr stark vertreten. Die soziale Ebene wird dabei abgewertet und als Gefahr für die Verwässerung des Evangeliums wahrgenommen.
Dahinter liegt nicht selten die Überzeugung, dass das Wort Gottes auf alles für das Leben Notwendige eine Antwort hat. Wer also nur klar und deutlich genug die Bibel und ihre Lehren unter die Menschen bringt, wird auch im Stande sein, alle ihre alltäglichen Probleme, wie Armut oder Krankheit zu lösen.
Diese traditionelle Sichtweise wird seit einigen Jahrzehnten sehr skeptisch gesehen. „Ein hungriger Magen hört nicht gut zu!“ ist die plakative Begründung dafür, dass die physischen Bedürfnisse gestillt sein müssen, um sich mit geistigen und geistlichen Bedürfnissen überhaupt erst auseinanderzusetzen zu können.
Mit Blick auf das Leben Jesu stelle ich fest, dass auch Jesus selbst seine Mission nicht nur als „geistlichen Auftrag“ gesehen hat. Für ihn war es selbstverständlich, sich auch um die alltäglichen, sehr praktischen Bedürfnisse der Menschen zu kümmern. Er hat Blinde sehend gemacht, gelähmte Menschen gehend, hungrige Menschen gespeist und viele andere praktische Fragen des Lebens beantwortet.
Mission also nur als geistlichen Auftrag zu sehen ist verkürzt. Wer meint, der einzige Auftrag an Christen wäre, nur die Bibel zu predigen und die sozialen Fragen zu ignorieren, der predigt etwas anderes als das, was die Bibel selbst sagt.
2. Der soziale Auftrag ist ein Werkzeug für den geistlichen Auftrag
Dass der soziale Aspekt nicht einfach ignoriert werden kann, leuchtet daher vielen missionsorientierten Christen ein. Trotzdem bleibt hier häufig die Befürchtung bestehen, den geistlichen Auftrag mit der sozialen Perspektive aufzuweichen und dadurch den Fokus auf das Wesentliche zu verlieren.
Wenn der hungrige Magen also nicht gut zuhört und das Ziel aber ist, die Menschen zum Zuhören der guten Botschaft zu bewegen, wird der soziale Auftrag zum Instrument gemacht. Sobald alle physischen Bedürfnisse gestillt sind, die Armut auf ein erträgliches Level gebracht wurde und die Menschen Vertrauen zu den Missionaren gewonnen haben, beginnt die eigentliche Missionsarbeit: Menschen begreifen Gottes Liebe, lernen Jesus kennen und nehmen ihn an.
Der Gedankengang ist verständlich! Ich hüte mich davor, an der aufrichtigen Liebe von Missionaren für die Menschen zu zweifeln! Im Gegenteil bewundere ich Menschen, die sich aufopfernd für Menschen investieren und hingeben. Gleichzeitig birgt diese Perspektive Gefahr, dass die Liebe der Missionare nicht mehr bedingungslos bleibt, so wie wir sie von Gott erfahren. Würde das nicht schließlich die bedingungslose Liebe Gottes in Frage stellen?
Was ist außerdem mit den Menschen, bei denen nicht abzusehen ist, ob sie Jesus jemals annehmen? Natürlich können wir Menschen dieses Urteil nicht fällen, weil wir häufig nicht wissen, was im Menschen vorgeht und Gott auch die unwahrscheinlichsten Dinge gebraucht, um Menschen zu sich zu ziehen.
Gleichzeitig gibt es eindeutige Situationen, in denen sehr klar wird, dass der soziale Dienst ausgenutzt wird, ohne dass ein Interesse an der „Botschaft dahinter“ besteht. Müsste in diesem Fall nicht die soziale Arbeit eingestellt werden, weil sie ihrem ursprünglichen Zweck nicht mehr dienlich ist?
3. Der soziale Auftrag ist Selbstzweck
Aus diesen Fragen entwickelt sich eine weitere Perspektive auf den sozialen Auftrag. Dieser ist weder zu vernachlässigen noch Mittel zum Zweck. Jesus liebte die Menschen nicht unter der Bedingung, dass sie an ihn glaubten oder ihm nachfolgten. Er redete auch nicht einfach nur über das Reich Gottes, sondern heilte und half ohne Bedingung.
Daraus wird abgeleitet, dass der soziale Auftrag weder etwas nur für „Nicht- Missionare“ ist, noch einfach Mittel zum Zweck, sondern wesentlicher Ausdruck der Liebe Gottes und praktischer Nächstenliebe. Dahinter verbirgt sich außerdem das Verständnis, dass die Nächstenliebe laut genug für sich selbst spricht und man die Menschen nicht auch noch „anpredigen“ muss. Sie dürfen zwar fragen und wenn sie fragen, darf der Missionar auch sagen, woran er glaubt. Es gibt jedoch keinen oder zumindest keinen zwingenden Zusammenhang zwischen der ausgeübten Nächstenliebe und dem Glauben an Gott.
Theologisch ist diese Perspektive deshalb schwierig, weil die Bibel eindeutig davon spricht, dass das gesprochene und verkündete Wort Menschen zu Jesus führt (Römer 10,14ff). In der Menschheitsgeschichte sehen wir zudem, dass vor allem Christen es waren, welche die soziale Arbeit vorangetrieben haben, indem sie Krankenhäuser, Schulen, Waisenhäuser und andere soziale Einrichtungen gründeten. Es gibt also durchaus einen Zusammenhang zwischen dem christlichen Glauben und sozialer Arbeit aus Nächstenliebe.
Wer soziale Arbeit (und selbst Nächstenliebe) heutzutage von dem christlichen Glauben und der Nächstenliebe abkoppelt und sie nur noch kulturell begründet oder an „westlichen Werten“ festmacht, wird feststellen, dass die Motivation für soziale Arbeit mit der Zeit nach und nach geschwächt wird.
Die Überzeugung, dass der soziale Dienst als Ausdruck der Nächstenliebe für sich selbst spricht, birgt noch eine andere Gefahr. Heutzutage gibt es viele soziale Projekte, die nicht aus Nächstenliebe, sondern aus geschäftlichen Zwecken betrieben werden. Dabei ist (zunächst) nicht immer der finanzielle Aspekt ausschlaggebend.
Wer soziale Projekte fördert und betreibt, um sich damit politischen oder sozialen Einfluss zu sichern, kann auf lange Sicht auch Finanzen, letztlich aber auch sehr viel ideellen Einfluss gewinnen. Wenn der einzelne Missionar also nicht sagt oder zeigt, warum und wie er seinen sozialen Dienst ausübt, besteht die Gefahr, dass eine ganz andere Motivation sozialen Dienst für die eigenen Zwecke missbraucht, ohne dass die Betroffenen das merken.
4. Mission ist eine Balance zwischen geistlichem und sozialem Auftrag
Wenn Mission nicht nur ein rein geistlicher Auftrag ist, der soziale Auftrag aber weder ein Mittel zum Zweck noch Selbstzweck ist, welche Rolle spielt er dann in der Mission?
Nicht selten begegnet man in der Mission der Überzeugung, dass es dann eben eine Balance zwischen geistlichem und sozialem Auftrag geben muss. Wenn man beides nur konsequent genug in Balance hält und weder das eine noch das andere überwiegt, wird jeder verstehen, warum wir Gutes tun und jeder sehen, welche gute Botschaft dahintersteckt.
Wenn es möglich ist, tatsächlich eine gute Balance zu erreichen, dann sehe ich darin eine Möglichkeit. So eine Balance in der Realität fertig zu bringen halte ich allerdings für fast unmöglich. Wie möchte ein Missionar tatsächlich messen, wann einer der beiden Aspekte “geistlich” und “sozial” in seinem Dienst überwiegt? Wie sieht die Balance aus, wenn ich ein soziales Projekt wie ein Waisenheim habe? Und wie sieht die Balance aus, wenn ich ein „geistliches“ Projekt wie eine Bibelschule, eine Gemeinde oder ein Jüngerschaftsprogramm habe?
Diese einzelnen Bereiche der Mission haben schon an sich einen eher geistlichen bzw. sozialen Fokus. Innerhalb dieses Fokus darauf zu achten, dass eine Balance herrscht, ist aus meiner Sicht so gut wie unmöglich. Außerdem lässt sich die Balance nur sehr subjektiv betrachten, da sie eben nicht in Zeit, Geld oder anderen objektiven Maßstäben messbar ist.
5. Wie Mission ganzheitlich funktionieren kann
Um eindeutiger sehen zu können, in welchem Verhältnis der soziale und der geistliche Auftrag zueinanderstehen, reicht Balance nicht aus. Ich sehe die beste Erklärung darin, dass sowohl der soziale Auftrag als auch das, was wir den geistlichen Auftrag nennen, Teil einer Mission sind.
Das wird am ehestem dem gerecht, wie Jesus seinen eigenen Auftrag gelebt hat. Jesus heilte und verknüpfte seinen sozialen Dienst mit der Aufforderung an den Geheilten, nicht mehr zu sündigen. Und er lehrte nicht einfach nur, dass Sünde uns selbst im Leben, unsere Beziehungen zueinander und zu Gott zerstört. Er half aus dieser Zerstörung auch wieder heraus, indem er Menschen die Anleitung gab, wie sie denn zukünftig einen besseren Umgang mit sich und ihrer Umwelt finden.
Sozialer Dienst ist also immer vollständig und für sich genommen Mission. Die Motivation seiner Handlungen und dabei die gute Botschaft zu erklären ist Teil des sozialen Dienstes. Denn sie prägt mein Weltbild, Menschenbild und auch meine Werte und macht mich zu dem „Sozialarbeiter“, als der ich im sozialen Dienst stehe.
Der geistliche Auftrag für sich genommen ist genauso immer vollständig Mission. Denn der geistliche Auftrag ist nur halb erfüllt, wenn ich nicht tue, was ich sage. Wer sagt, der Nächste solle geliebt werden, weil die Bibel das sagt, aber gleichzeitig seine Mitmenschen nicht liebt, indem er seine Ärmel hochkrempelt, der sagt damit auch: Es gibt zwei Arten von Liebe – die, über die ich rede und die, die ich ausübe. Es ist leicht einzusehen, dass so eine Botschaft kein Vertrauen erweckt. Der „Prediger“, Gemeindegründer oder Missionar, der sich nicht als Teil seiner eigenen Botschaft sieht, hat weder die Botschaft verstanden, noch verkündigt er das wahre Evangelium.
Mission steht also nicht zwischen einem geistlichen und einem sozialen Auftrag. Mission ist auch nicht eins von beidem. Mission ist beides, unbedingt gleichzeitig und immer ganzheitlich. Denn Mission sieht den Menschen, wie Gott ihn sieht – in seinen Beziehungen zu Gott, zu seinen Mitmenschen, zu seiner Umwelt und zu sich selbst. Und nur da, wo Mission diese Beziehungen in seiner Komplexität sieht, kann Mission auch ganzheitlich geschehen – sozial und geistlich zugleich.